Eulenspargel.de
Home
(Hinweis: Für Copy-und-Paste, ggf. in neuem Browsertab öffnen via Menupunkt DRUCK)

Lehren aus der Finanzkrise Das Geheimnis der unsichtbaren Hand


Quelle: Süddeutsche Zeitung-online - Ein Gastbeitrag von Joseph E. Stiglitz
[http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/641/498927/text/]
01.01.2010

Was kommt nach der großen Krise? Die Welt hat ein paar wertvolle Lehren gezogen, allerdings zu einem hohen Preis.


Das Beste, was über 2009 gesagt werden kann, ist: Es hätte schlimmer kommen können. Es gelang uns, von dem Abgrund zurückzuweichen, an dem wir uns Ende 2008 befanden, und 2010 wird für die meisten Länder ziemlich sicher besser werden.
Die Welt hat zwar ein paar wertvolle Lehren gezogen, aber zu einem hohen Preis, was den gegenwärtigen und zukünftigen Wohlstand betrifft - ein unnötig hoher Preis, zumal diese Lehren eigentlich schon früher hätten gezogen werden können.
Die erste Lehre ist, dass Märkte sich nicht selbst korrigieren. Ohne angemessene Regulierung tendieren sie vielmehr zum Exzess. Im Jahr 2009 wird uns wieder einmal klar, warum Adam Smiths unsichtbare Hand oft unsichtbar bleibt: weil es sie gar nicht gibt.

Mittel der Armen zu den Reichen dirigiert

Das eigennützige Streben der Banker führte eben nicht zum Wohl der Gemeinschaft, es war nicht einmal für Aktionäre von Nutzen. Ganz sicher nichts davon hatten die Hausbesitzer, die ihr Heim verloren; Arbeitnehmer, die ihre Jobs einbüßten; Rentner, die zusehen mussten, wie sich ihre Altersvorsorge in Luft auflöste oder die Steuerzahler, die Hunderte Milliarden Dollar zur Rettung der Banken zahlen mussten.
Angesichts des drohenden Zusammenbruchs des ganzen Systems wurde das Sicherheitsnetz des Staates - das eigentlich für Menschen in Not gedacht ist - generös auf Banken, dann auf Versicherungen, Autohersteller, ja sogar auf Autokreditfirmen erweitert. Noch nie wurde derart viel Geld von so vielen Menschen zu so wenigen umgeleitet.
Normalerweise nehmen wir an, dass der Staat das Geld von den Reichen zu den Armen umverteilt. In diesem Fall aber wurden die Mittel der Armen und Durchschnittsverdiener zu den Reichen dirigiert.

Anteile an staatlichen Geschenken

Sie mussten genau jenen Institutionen Geld zukommen lassen, von denen sie vorher jahrelang abgezockt wurden - durch räuberische Kreditvergabe, Wucherzinsen bei Kreditkarten und undurchsichtige Gebühren. Und dann mussten die Steuerzahler auch noch zusehen, wie ihr Geld benutzt wurde, exorbitante Boni und Dividenden auszuzahlen. Dividenden sind eigentlich Anteile am Gewinn, in diesem Fall waren sie einfach Anteile an staatlichen Geschenken.
Die Bankenrettung enthüllte die allumfassende Heuchelei. Diejenigen, die unter Hinweis auf den Staatsetat Zurückhaltung gepredigt hatten, als es um kleine Sozialprogramme für die Armen ging, forderten nun lautstark das größte Sozialprogramm der Welt. Diejenigen, die der Tugend der "Transparenz" das Wort redeten, schufen letztlich ein so undurchschaubares Finanzsystem, dass die Banker nicht einmal mehr ihre eigenen Bilanzen verstanden.

Schuldenerlass für den Finanzsektor

Und dann wurde auch noch der Staat in immer undurchsichtigere Formen der Bankenrettung gedrängt, um so zu vertuschen, dass es um Geschenke für die Banken ging. Diejenigen, die von "Rechenschaftspflicht" und "Verantwortung" gesprochen hatten, wollten nun den Schuldenerlass für den Finanzsektor.
Zum zweiten haben wir gelernt, warum Märkte oft nicht so funktionieren, wie sie sollten. Für Marktversagen gibt es viele Gründe. In diesem Fall waren es perverse Anreiz-System bei Kreditinstituten, die zu groß sind, um sie scheitern zu lassen.

Keynesianische Politik funktioniert

Wenn sie zockten und gewannen, steckten sie die Profite ein; wenn sie verloren, mussten die Steuerzahler einspringen. Außerdem funktionieren Märkte oft nicht gut, wenn die Informationen unvollkommen sind - aber unvollkommene Informationen sind zentraler Bestandteil der Finanzwelt. Der Zusammenbruch einer Bank bürdete den anderen Kosten auf, und die Zusammenbrüche im Finanzsystem führten zu Kosten für Steuerzahler und Arbeitnehmer auf der ganzen Welt.
Dritte Lektion: Keynesianische Politik funktioniert. Länder wie Australien, die umfassende, wohl durchdachte Konjunkturprogramme umsetzten, kamen schneller aus der Krise.
Andere Länder ergaben sich der alten ökonomischen Orthodoxie, hinter der genau jene Finanzjongleure standen, die uns die Misere eingebrockt hatten. Wenn eine Volkswirtschaft in die Rezession schlittert, kommt es zu Etatdefiziten, weil die Steuereinnahmen schneller sinken als die Ausgaben.

Geldpolitik ist mehr als Inflationsbekämpfung

Die alte Lehre besagt, dass man das Defizit senken muss: entweder durch Steuer-Erhöhungen oder Kürzungen der Ausgaben - um "das Vertrauen wiederherzustellen". Diese Politik führte allerdings fast immer zu einem Rückgang der Gesamtnachfrage, wodurch die Wirtschaft noch tiefer einbrach und das Vertrauen noch weiter untergraben wurde - wie in den 1990er Jahren, als der Internationale Währungsfonds in Ostasien auf einer derartigen Politik bestand.
Die vierte Lehre besteht darin, dass Geldpolitik mehr ist als Inflationsbekämpfung. Die übermäßige Konzentration darauf bedeutete, dass manche Zentralbanken einfach ignorierten, was mit ihren Finanzmärkten passierte. ´
Die Kosten einer leichten Inflation sind minimal im Vergleich zu den Kosten, die Volkswirtschaften aufgebürdet werden, wenn die Zentralbanken ungebremstes Wachsen von Blasen ermöglichen.
Die fünfte Lehre ist, dass nicht jede Innovation zu einer effizienteren und produktiveren Volkswirtschaft führt, geschweige denn zu einer besseren Gesellschaft. Es kommt auf private Anreizsysteme an, und wenn die falsch konstruiert sind, kann es zu übertriebener Risikobereitschaft und übermäßig kurzsichtigem Verhalten kommen. Ein Beispiel: Während der Nutzen vieler neuer Finanzprodukte in den vergangenen Jahren schwer nachzuweisen, wenn überhaupt zu beziffern ist, so sind die damit verbundenen Kosten offenkundig und enorm.

Kapital in höchstem Maß fehlgeleitet

Die Finanzingenieure schufen ja keine Produkte, die gewöhnlichen Bürgern halfen, das simple Risiko von Hauseigentum zu managen. Sie waren vielmehr darauf ausgerichtet, die Ausbeutung der weniger Gebildeten zu perfektionieren sowie jene staatlichen Vorschriften zu umgehen, die die Märkte effizienter und stabiler hätten gestalten sollen. Die Konsequenz war, dass Finanzmärkte, die eigentlich Risikomanagement besorgen sollten, dieses Risiko schufen und das Kapital in höchstem Maß fehlleiteten.
Wir werden bald wissen, ob wir die Lektionen aus der Krise diesmal besser gelernt haben als früher. Wenn allerdings die USA und andere Industrieländer im Jahr 2010 nicht größere Fortschritte bei den Reformen des Finanzsektors machen, könnten wir leider bald wieder die Gelegenheit haben, Lehren zu ziehen.

Übersetzung englisch nach deutsch: Helga Klinger-Groier

(SZ vom 31.12.2009/01.01.2010/pak)